8. Kapitel

 

Mikhail spürte Nells Anspannung, als er ihr aus der Kutsche half. Kein Wunder: Sie waren gerade erst im Dorf eingetroffen, und schon kamen von überall her die Leute angeströmt.

»Wollen Sie wirklich nicht lieber zuerst zu Ihrem Haus fahren?«, erkundigte er sich leise, aber Nell schüttelte entschlossen den Kopf.

»Wenn wir es nicht gleich hier und jetzt hinter uns bringen, werden sie uns die Tür einrennen. Ich meine, mir ... Ach, Sie wissen schon, was ich meine.«

Mikhail wusste es und hätte sie deswegen aufgezogen, wenn sie nicht so nervös gewesen wäre. Er war froh, dass sie die Kinder auf dem Arm hatte, denn die Kleinen lenkten sie mit ihrem fröhlichen Gebrabbel ein wenig ab. Mikhail warf einen Blick auf den Laden, vor dem sie angehalten hatten, dann schaute er sich um.

Die Morgensonne schien auf ein recht kleines Dorf. Es gab eine Gastwirtschaft, eine Metzgerei, eine Bank und eine Kirche. Und am anderen Ende des Dorfplatzes ein Gebäude, das die Schule sein musste. Das war alles. Kein Postamt, keine Bäckerei, geschweige denn einen Gentleman's Club oder eine Spielhalle. Nicht dass er für solche Amüsements Zeit gehabt hätte, aber gewiss konnten nicht mehr als ein paar hundert Menschen hier leben.

Die Dorfbewohner kamen nun von allen Seiten auf sie zu zeigten auf sie und tuschelten zu zweit oder in Gruppen miteinander. Das erinnerte ihn an einen Ball, zu dem er Angelica einst begleitet hatte. Sie sollte dort den Mitgliedern des nördlichen Clans vorgestellt werden.

»Also gut, dann gehen wir jetzt eben Mehl und Zucker kaufen.« Mikhail lächelte in die Runde der Umstehenden.

»Mehl und Zucker?«, fragte Nell verwirrt. Warum war sie bloß so nervös? So hatte er sie noch nie erlebt, nicht einmal auf dem Boot, als diese Mörder hinter ihnen her waren. Er musste sie ablenken. Bevor er es sich anders überlegen konnte, beugte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

Nell riss entsetzt die Augen auf und rang nach Worten. Mikhail musste ein Lachen unterdrücken; sie war einfach hinreißend, wenn sie so aus der Fassung geriet.

»Lächeln, Nell!«, ermahnte er sie. »Wir sind immerhin verheiratet, schon vergessen?« Er schlang den Arm um ihre Taille und führte sie auf den Laden zu. Dabei kam ihm der Gedanke, wie viel Spaß es ihm machen würde, Nells Ehemann zu spielen. Es gefiel ihm nicht, wenn sie so nervös war, aber sie ein wenig aus der Fassung zu bringen, das genoss er in vollen Zügen. Und was das Küssen betraf ... Nun, jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, daran zu denken. Sie hatten schließlich Publikum.

»Ja, Sie haben recht, es tut mir leid. Es ist nur ein bisschen schwerer, als ich dachte ...«, sagte sie leise, wirkte aber immerhin nicht mehr ganz so erstarrt wie zuvor. Sie versuchte zu lächeln.

»Keine Sorge, Nell, vertrauen Sie mir, ich bringe das schon in Ordnung«, versicherte er ihr.

Warum nur empfand er einen solch starken Drang, diese Frau zu beschützen?

Sie schaute ihn über die Köpfe von Katja und Mitja hinweg an - und diesmal lag ein echtes Lächeln auf ihren Lippen. Gemeinsam schritten sie auf den Laden zu.

Ein melodisches Klingeln ertönte, als sie die Tür öffneten. Der Ladeninhaber eilte rasch vom Schaufenster weg und hastete hinter seine Theke zurück. Mikhail musste sich erneut ein Lächeln verkneifen.

»Guten Morgen, Adam«, sagte Nell, als sie die Theke erreicht hatten. Das klang ein wenig steif, wie Mikhail fand, aber er konnte sich ja irren.

»Storm! Ach du meine Güte! Bist du's wirklich?« Der Ladeninhaber strahlte und machte Anstalten, hinter seiner Theke hervorzueilen, um Nell zu begrüßen, doch etwas in ihrem Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten und zurückweichen. Mikhail hatte ihr Gesicht nicht gesehen, er war zu sehr mit der Frage beschäftigt gewesen, warum der Mann Nell Storm nannte. Ein alter Spitzname?

»Ja, ich bin es.« Nun war Mikhail sicher: Nells Stimme klang definitiv, kalt und abweisend. Kein Wunder, dass das Strahlen auf Adams runzligem Gesicht erlosch. »Mein Mann und ich brauchen Mehl und Zucker, bitte.«

Der alte Mann sah aus, als würde er jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen. Mikhail beschloss, sich jetzt besser einzumischen.

»Hallo, ich bin Michael, der Ehemann.« Er bot dem geschockten Ladeninhaber seine Hand.

»Hallo, Michael«, antwortete Adam und schüttelte erfreut seine Hand, »es ist mir eine Ehre, Storms Ehemann kennen lernen. Wir hätten ja nie gedacht, dass es dazu kommen würde, vor allem nachdem ...«

»Adam, wenn wir bitte den Zucker haben könnten«, schnitt Nell ihm das Wort ab. Mikhail runzelte die Stirn. Er hatte den alten Mann fragen wollen, warum keiner damit gerechnet hatte, dass Nell heiraten würde, aber nun starrte Adam die Babys an, und wieder hatte Mikhail das Gefühl, dass er umzukippen drohte.

»Sind das deine Kinder?«, stieß der Alte ehrfürchtig hervor.

Nell schaukelte die Kinder auf ihren Armen. Die kleinen Fäustchen hatten bereits begonnen, ihr das Haar aus dem Dutt zu ziehen. »Sie sind die Kinder von Michaels verstorbener Schwester. Wir haben sie adoptiert.«

»Ach, das tut mir aber leid«, sagte Adam, ehrlich betroffen. Mikhail fand, dass er eigentlich ein netter Kerl war, obwohl Nell ihn offenbar nicht leiden konnte.

Als Nell daraufhin nichts erwiderte, breitete sich eine unbehagliche Stille aus. Adam warf einen raschen Blick zum Schaufenster, an dem sich bereits eine Traube Neugieriger die Nasen platt drückte.

»Äh, ja, also Mehl und Zucker, sagtest du? Ich hätte auch etwas Milch da für die Kleinen.« Adam verschwand im Hinterzimmer, wo er herumzukramen begann. Kurz darauf tauchte er mit dem Benötigten auf. Alles wurde verpackt und bezahlt.

»Ich danke Ihnen, Adam«, sagte Mikhail freundlich, »auf bald. Wir werden uns jetzt sicher öfter sehen.« Sie wandten sich zum Gehen.

»Soll das heißen, ihr bleibt hier?«, rief Adam.

»Ja«, antwortete Mikhail.

»Das ist ja großartig!«, freute sich der Alte. »Im Dorf ist es einfach nicht mehr dasselbe, seit uns unsere Storm verlassen hat.«

Nell blieb stumm, was Mikhails Verdacht, sie habe ihm eine Menge zu beichten, nur verstärkte.

»Auf bald«, wiederholte er und führte Nell auf die Straße hinaus. Unter den Blicken der Neugierigen führte er sie zu ihrer Mietkutsche zurück. Ein paar Leuten lächelte er dabei zu.

Sobald sich die Kutsche wieder in Bewegung gesetzt hatte, stieß er einen erleichterten Seufzer aus.

»Würden Sie mir bitte erklären, was das zu bedeuten hatte?«, fragte er mit gespielter Ruhe.

Es gefiel ihm gar nicht, derart unvorbereitet zu sein, kein bisschen, vor allem nicht in seiner Situation. Immerhin waren sie auf der Flucht vor Mördern und Halsabschneidern. Die Kutsche rollte die Straße zu Nells Cottage entlang. Nell, die ihm gegenübersaß, nickte grimmig mit bleichem Gesicht und harten Augen.

Nell konnte den Zorn, den er in Hitzewellen verströmte, beinahe körperlich spüren. Und sie konnte es ihm nicht verübeln. Ihn im Dunkeln zu lassen, war vielleicht doch nicht die klügste Entscheidung gewesen, musste sie sich eingestehen.

Aber, verdammt noch mal, er hatte schließlich darauf bestanden, dass sie ihm half. Und sie half ihm ja! Erzürnt rückte sie die Kleine auf ihrem Schoß zurecht.

»Ich warte.«

Nell schloss kurz die Augen und versuchte, vernünftig zu sein. Sie war wütend auf das Dorf, nicht auf Mikhail. Sie musste ein bisschen verständnisvoller sein. Der Mann machte sich wahrscheinlich Sorgen. Immerhin hatte er ihr sein und das Leben der Kinder anvertraut. Und dieses Vertrauen hatte sie nun erschüttert.

Nell hatte auf einmal ein schlechtes Gewissen, und das machte sie noch zorniger. Gott, sie hasste es, die Dinge aus der Sicht anderer zu betrachten!

»Storm ist mein richtiger Name«, gestand sie widerwillig. Sie wollte sich diesem Mann nicht öffnen, wollte nicht erleben müssen, wie auch er sie verurteilte. Nun, er würde früh genug alles erfahren, aber das war kein Grund, schon jetzt ihre Seele vor ihm zu entblößen.

»Storm?«, wiederholte er skeptisch, aber ein wenig versöhnlicher.

»Ja. Ich weiß, es ist ein ungewöhnlicher Name, aber meine Mutter hieß Sky und ihre Schwester Star ... Sie verstehen?«

Bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Aber mir wäre es lieber, Sie würden mich weiterhin Nell nennen.«

Mikhail überlegte. Dann nickte er.

»Ihre restlichen Geheimnisse können Sie vorläufig für sich behalten. Jetzt geht es vor allem darum, dass die Kinder ordentlich versorgt sind.«

Wie auf Kommando hielt in diesem Moment die Kutsche an.

»Ist es das, Chef?«, rief der Kutscher und beugte sich zu ihnen hinunter. Mikhail deutete fragend aus dem Fenster, und Nell hielt den Atem an.

»Ist das Ihr Cottage?«

Es sah genauso aus, wie es ihr ganzes Leben lang ausgesehen hatte: ein zweistöckiges graues Steincottage mit einem dicken braunen Reetdach, auf das sie als Kind unzählige Male geklettert war.

Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern und lenkte Nells Aufmerksamkeit auf die himmelblauen Vorhänge. Die Möbel drinnen waren alle entweder himmelblau oder weiß - die Lieblingsfarben ihrer Mutter. Ob es immer noch nach den Rosen duftete, die ihre Mutter so leidenschaftlich gezüchtet hatte? Und im Arbeitszimmer ihres Vaters nach alten Büchern?

Nell wurde auf einmal von einer unbändigen Sehnsucht gepackt. Sie drückte dem verblüfften Mikhail kurzerhand Katja in die Arme und sprang aus der Kutsche. Dann öffnete sie das Gartentürchen und eilte auf das Haus zu. Aber als sie die Tür erreichte, blieb sie abrupt stehen und zögerte.

Wenn nun alles anders war?

Oder noch schlimmer: Wenn alles genauso war, wie immer?

Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, aber bevor Nell eine Entscheidung treffen konnte, ging plötzlich die Tür auf, und vor ihr stand eine vertraute alte Gestalt.

»Morag.« Nells Stimme brach. Hier stand das einzige Wesen, das ihre Eltern genauso geliebt hatte wie sie. Die Einzige, die ihren Schmerz verstehen konnte.

Plötzlich merkte Nell, dass sie Morag längst verziehen hatte. Die alte Frau hätte niemals zugesehen und ihre Mutter sterben lassen, wenn sie etwas dagegen hätte tun können. Dafür hatte sie sie viel zu sehr geliebt. Das erkannte Nell jetzt. Sie war damals so zornig, so durcheinander gewesen ... Nur deshalb hatte sie der alten Frau nicht verzeihen können.

»Es tut mir leid«, sagte Nell leise. Die weisen blauen Augen in dem vertrauten runzligen Gesicht mit den dichten weißen Haaren blickten sie liebevoll an. Dann öffnete Morag ihre Hand, und Nell sah, dass darin Rosenblüten lagen, Blüten von ihrer Lieblingsrose. Die alte Schottin hatte also gewusst, dass sie kam. Wie sie so viele Dinge wusste. Es war ein Friedensangebot.

»Danke.«

Nell nahm die Blütenblätter und steckte sie in die kleine Tasche ihres geliehenen Kleids.

»Nell?«

Mikhail war hinter ihr aufgetaucht. Ihn und die Kinder hatte sie ganz vergessen!

»Ach, Michael«, sagte sie und nahm ihm Katja ab. »Darf ich dir Morag vorstellen?«

Mikhail schenkte der alten Schottin ein aufrichtiges Lächeln. Sein Blick wanderte über ihre abgetragenen Kleider.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Nell biss sich auf die Lippe und beobachtete, wie Morag zunächst Mikhail musterte und dann die Kinder. Dann kehrte ihr Blick zu Nell zurück. Ihr Gesicht war, wie immer, ausdruckslos, doch dann streckte sie ihre Arme nach Katja aus.

Mikhails Blick huschte unschlüssig zwischen Morag und Nell hin und her.

»Keine Sorge«, sagte Nell und reichte Katja an die alte Frau weiter. »Morag kennt sich gut mit Kindern aus. Sie hat mich und vor mir schon meine Mutter aufgezogen.«

Als Mikhail jedoch noch immer zögerte, ihr auch Mitja auszuhändigen, nahm Nell ihm den Jungen ab und überreichte ihn Morag. Die Augen der alten Frau blitzten erfreut auf. Dann nickte sie, wandte sich ab und verschwand mit ihren Schutzbefohlenen im Haus.

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